Wenn das Leben (k)eine Kunst ist, wie Wladimir Kaminer in seinem neuen Buch behauptet, dann ist er ein wahrer Lebenskünstler. „Lebenskünstler“, sagte er ja selber am Donnerstag im Ballenlager, „das sind Menschen, die sich mit Herz und Fantasie und einer Prise Versponnenheit ins Dasein stürzen. Wenn sie da mit dem wahren Leben zusammenprallen, dann macht es „Bumm!“ – und so entsteht wieder eine Geschichte.“
Von denen der Deutschen liebster Russe (ganz ohne Fellmütze, rotem Folklorehemd und „Kalin-kakalin“) an diesem Abend ein buntes Sammelsurium mitbrachte, kleine Anekdoten des ganz normalen Wahnsinns, die er charmant, spitzbübisch und mit diesem drolligen Akzent mit tief und heftig rollendem R erzählte. In einem Wust aus losen Blättern herumhantierend, schenkte er dem bestens aufgelegten Publikum herzlichste Liebesgrüße aus Germanistan.
Kaminer erzählte von seiner 83-jährigen Mutter, die seit 20 Jahren Englisch lernt, weil sie ein Buch über Nebelvertreibung auf englischen Flughäfen ins Russische übersetzen möchte. Oder von einer Kreuzfahrt nach Miami, auf der ihm der Ober zehn Flaschen Wein mit günstigem Rabatt anbot, obwohl er, Kaminer, doch nur ein Glas bestellt hatte: „Ich habe mir danach nicht mehr zugetraut, ein Steak zu bestellen, ich dachte, der Geschäftstüchtige setzt mir eine ganze Kuh auf den Schoß – zum halben Preis.“ Ganz entspannt plauderte er über seinen schwulen Onkel Vitali, die Latein-Allergie seiner Tochter, adelte Unkraut zur „spontanen Vegetation“ und erzählte vom nächtlichen Telefonterror des verliebten Sohnes, den Irrungen der Freiwindel-Erziehung und seinem verregneten Besuch in Münster: „Das Hallenbad sah genauso aus wie damals in Ost-Berlin das Ernst-Thälmann-Bad – vor der Renovierung.“
Es muss lustig sein, als gebürtiger Russe in Deutschland zu leben und mit staunenden Augen auf die Seltsamkeiten der Deutschen zu schauen, auf ihre grauenhafte Aufgeräumtheit, ihre Macken, Dichter und Denker („Gölderlin und Goffmann“), Nachbarn, Taxifahrer und Gartenzwerge. Wladimir Kaminer erzählt seine lakonisch-skurrilen Geschichten, die entweder scharf beobachtet oder sehr gut erfunden sind, wie schubladenfreie Satiren, denen er mit feinem Sprachgefühl ein poetisches Mäntelchen überstülpt. In seiner Welt gibt es weder schwere Armut, noch protzige Vorortvillen, sondern Bahnhöfe und Schrebergärten, Volkshochschulen und Schweinebraten mit Sättigungsbeilage.
Der jüngst verstorbene Harry Rowohlt ist wohl Kaminers heimliches Idol (nicht, weil Harry bei seinen Lesungen Whisky trank und Wladimir Wein), sondern weil beide dieselbe Blickrichtung haben: Deutschland von schräg unten. „Es gibt drei Arten, die Welt zu sehen“, schrieb einmal die FAZ: „Die optimistische, die pessimistische und die von Wladimir Kaminer.“ Der weiß, was er sagt: „Das Leben ist (k)eine Kunst.“